Es gibt keine Worte für die Endgültigkeit des Todes.
Und es gibt auch kaum Worte, das Warten auf diese Endgültigkeit zu beschreiben.
Und doch möchte ich versuchen, etwas in Worte zu fassen. Als verzweifelten Hilfeaufruf für all jene namenlosen Geschöpfe an all jene, deren Herzen gegenüber ihrem unfassbar großen Leid noch nicht offen sind.
Ohnmacht.
Immer wieder Ohnmacht. Sie ist es, die mich überfällt, wenn die Transporter mit den Schweinen tief in der Nacht in den Münchner Schlachthof einfahren. Manchmal ist es totenstill wenn die Wagen einfahren, kein Laut dringt hervor, nur der Gestank angsterfüllter Ausscheidungen bleibt zurück. Aber manchmal schreien sie. Ihre Schreie gellen durch die tiefschwarze Nacht und dann weiß man, warum die Schweine im Münchner Schlachthof tief in der Nacht getötet werden. Der Schlachthof liegt mitten in der Stadt.
Der Transporter ist schnell außer Sicht, er fährt ganz weit hinten nach rechts, aber ich weiß, was jetzt passieren wird. Sie werden entladen, kommen in einen „Ruheraum“, dann die elektrische Betäubung und schließlich der „Stich“. Von diesem „Stich“ erzählt mir ein Metzger am nächsten Tag bei der 5. Mahnwache am Münchner Schlachthof. Er will wissen, was wir hier tun und meint, dass das Problem nicht die getöteten Tiere seien, sondern schlecht gelernte Metzger, die diesen Stich nicht richtig ausführen. Er steht so dicht vor mir, dass ich dauernd einen Schritt zurückgehe. Aber jedes Mal, wenn ich das tue, macht er wieder einen Schritt nach vorn. Er legt mir die Hand auf den Arm und ich zucke zurück. Diese Hand bedeutet Tod. Tausend-, hunderttausendfachen Tod. Dreißig Jahre Schlachter. Jetzt wäre sein Rücken kaputt, erklärt er mir. Ob er kein Mitleid mit den Tieren habe, frage ich ihn. Nein, meint er – wegen dem richtig ausgeführten Stich, denn damit würde ein Schwein nicht unnötig leiden. Er geht und ich bin froh darüber.
Das Mitleid wird wegrationalisert. Nicht nur bei diesem Metzger, sondern bei all jenen Menschen, die wenig oder viel Fleisch essen. Alles wird ausgeblendet. All das, was vor diesem Stich geschieht und noch weit davor. Die Lebensfreude eines Wesens, als es in diese Welt kam und seiner Natur folgen wollte. Etwas, das durch Massentierhaltung unmöglich ist und nur ein langes, qualvolles, zusammengepferchtes Warten auf den Tod bedeutet. Und selbst wenn ein Schwein artgerecht auf einem Bio-Bauernhof leben konnte – wie grausam ist es, ihm dieses Leben und seine Freude daran gewaltsam zu entreißen. Die Biotierhaltung dient vor allem dem Menschen. Um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen oder wegen des Geschmacks oder des gesundheitlichen Aspekts. Keine Antibiotika, kein genmanipuliertes Soja. Es gibt aber kein gesundes Fleisch, nur totes. Tod kann nicht gesund sein, Gesundheit hat mit Lebendigkeit zu tun. Tod ist tot.
Es dämmert schon, als ein letzter kleiner Transporter mit jungen Schweinen einfährt. Keine Schreie sind zu hören und auch in mir ist Stummheit. Vor Schmerz.
Gegen halb sieben fahren die ersten Transporter mit den Rindern ein. Jetzt sind die Abstände noch groß, aber gegen Mittag rollt einer nach dem anderen ein. Am Freitag werden mehr Rinder als sonst geschlachtet. Es ist heiß, um die vierunddreißig Grad.
Die Transporter fahren nach links um die Ecke, am Fischrestaurant Atlantik vorbei, das gleich in der Einfahrt des Münchner Schlachthofs liegt. Ein Stück weiter dahinter ist der Entladeplatz und die Schleusen, in die sie eingetrieben werden. Lange Gänge mit Metallabtrennungen, noch im Freien, in der die Tiere auf ihren Tod warten. Kein Zurück ist mehr möglich. Manchmal versuchen sie es, aber es geht ja nicht, hinter ihnen steht der nächste Leidensgefährte und hinter dem letzten wird die Untentrinnbarkeit des Todes durch eine dicke Metalltür besiegelt. Die hilflosen Blicke dieser sanften Wesen, wenn sie dort stehen und warten müssen, haben sich tief in meine Seele eingebrannt.
Ich wage mich um die Ecke, bleibe hinter dem Restaurant stehen und schaue auf die Transporter, die in der glühenden Mittagshitze stehen. Durch die offenen Klappen sehe ich die rosa Schnauzen der Rinder und ihre weit aufgerissenen Augen. Einige unter ihnen sind über und über mit Kot besudelt, auch am Kopf. Je nach Größe des Transporters stehen sie zu zweit oder zu dritt in Abtrennungen. Ich packe meinen Mut zusammen, hole zwei große Wasserflaschen und Schälchen und gehe mit einer Freundin zu einem der Transporter. „Das bringt nichts, die werden nichts trinken“, erklärt mir der Fahrer. Er hat recht, der Versuch ist zwecklos. Todesangst nimmt jeglichen Raum ein, jedes Bedürfnis, selbst das natürlichste, geht in ihr unter.
Verzweifelte Blicke, verzweifelte Hilferufe. Das Rufen der Rinder, das auch all jene Münchner hören, die an der Mauer des Entladeplatzes vorbeigehen oder in der Nähe wohnen, erschüttert durch und durch.
Es ist anders, wenn man dieses Warten auf den Tod miterlebt. Es zu beschreiben, fällt schwer. Es gibt nur Wortausdrücke dafür.
Ohnmacht.
Grauen.
Hilflosigkeit.
Trauer.
Entsetzen.
Schrecken.
Qual.
Verzweiflung.
Todesangst.
Es sind hilflose, menschgemachte Wörter.
Die Rinder drücken ihre Verzweiflung durch ihre verzweifelten Rufe aus.
Ich versuche, die meine in Worte zu fassen.
Ein kärglicher Versuch.
So wie jener Versuch, einem Mitarbeiter, mit dem ich bei der vorletzten Mahnwache gesprochen habe, zu sagen, warum ich mir die wartenden Transporter ansehe.
„Warum tun Sie sich das an?“, fragt er mich. „Sie tun mir so leid“, antworte ich. Für mehr fehlen mir die Worte. „Aber dann schlafen Sie schlecht, wegen der Bilder in Ihrem Kopf.“
Er sieht mich tatsächlich besorgt an.
Wie kann er schlafen?
Ich will nicht stumpf werden wie die abgewetzten Messer der Metzger. Lieber habe ich die Bilder in meinem Kopf und kann nicht einschlafen.
Ich gehe wieder hinaus zu den vielen Lichtern, die seit gestern Abend für die Tiere vor den Mauern des Schlachthofs brennen.
Alle menschlichen Kümmernisse relativieren sich an diesem Ort. Alles was mich persönlich betrübt oder worüber ich mich ärgere, wird null und nichtig im Angesicht des Todes von Lebewesen, die nichts anderes tun wollten wie wir: Leben und sich am Leben freuen.
Wer stirbt schon gerne vor seiner Zeit? Kein Mensch und auch kein Tier. Jeder gewaltsame Tod durch Menschenhand ist zutiefstes Unrecht. Fleisch bedeutet keine Lebenskraft, sondern Tod. Fleisch bedeutet Leid. Unsagbares Leid und Verzweiflung.
Das ist es, was Menschen essen. Den zerstückelten Ausdruck von Qual, Angst und Tod. Fleisch ist kein „Stück Lebenskraft“ sondern ein Stück vom Tod. Jeder Bissen. Da gibt es nichts zu beschönigen oder wegzurationalisieren.
Dies ist eine verzweifelte Bitte an jeden einzelnen Menschen, der noch Fleisch isst. Für jene Wesen, die nur verzweifelt rufen können angesichts der Endgültigkeit ihres Todes. Bitte beendet dieses Leid, das tagtäglich, in jeder Sekunde auf diesem Planeten stattfindet. Es gibt so viele gute pflanzliche Alternativen und Möglichkeiten, sich zu ernähren. Der menschliche Körper braucht auch keine Milch. Die Milch ist für das Kalb gedacht. Immer wieder passiert es, dass trächtige Kühe geschlachtet werden. Was muss so eine Kuh empfinden, wenn sie in der Schleuse auf ihren Tod wartet? Was empfindet dieses kleine heranwachsende Wesen in ihrem Leib?
Es gibt ein Grauen, für das es keine Worte gibt.
Bitte – jeder Einzelne kann dieses unfassbare Leid beenden.
Es ist nur ein kleiner Schritt.
Er bedeutet Leben.
(c) Daniela Böhm
www.danielaböhm.com
Ein tief berührender Beitrag, den ich gerne weiter geleitet habe an einige Menschen in meinem Umfeld; die leider immer noch nicht die Schuld erkennen, die sie mit ihrer Ignoranz dieses unsäglichen Leidens auf sich laden….