Der Begriff der Radikalität hat heutzutage gerade in der Tierrechtsbewegung einen negativen Beigeschmack. Bei näherer Betrachtung seiner eigentlichen Bedeutung ist dies allerdings unbegründet. Es war damals vor allem die bürgerliche Linke, die im neunzehnten Jahrhundert in der Freiheits- und Demokratiebewegung einen grundlegenden gesellschaftlichen und politischen Wandel anstrebte und sich radikal für ihn einsetzte; aus dieser Zeit stammt das Wort in seiner heutigen Bedeutung. Sieben Buchstaben, deren eigentliche Aussage eine richtige und wichtige Forderung beinhaltet. Radikal leitet sich vom lateinischen Wort radix ab, die Wurzel. Es bezeichnet das Bestreben nach einer durchgreifenden Veränderung, etwas an der Wurzel anzupacken. Sichtbare Probleme müssen in ihrer Tiefe erforscht und verändert werden, denn nur dort kann der wirkliche Wandel eines verbesserungswürdigen Zustandes herbeigeführt werden.
Die negative Interpretation der Radikalität hat in bestimmten Fällen mit dem jeweilig herrschenden System zu tun, welches keinen grundlegenden Wandel wünscht, weil es seine Macht um jeden Preis behalten will. Auf die Tierrechtsbewegung bezogen ist es eine mächtige kapitalistische Lobby, die hinter dem politischen System steht und sich nichts weniger wünscht als ein Ende der Tierausbeutung. Was könnte da näherliegen, als die Negativität eines Begriffes zu schüren, auch wenn es dieser per se überhaupt nicht ist? 1975 wurde das Wort Radikalismus von den Staatsschutzbehörden in Deutschland offiziell durch das Wort Extremismus ersetzt, doch ein düsterer Schatten haftet diesem Wort immer noch an.
In die Augen eines kleinen Wesens zu blicken und in diesem Moment sein Leid zu fühlen und das zukünftige Schicksal wie einen Film vor dem inneren Auge zu sehen, kann nur einen Zustand der Trauer hervorrufen. Trauer gibt es nicht halb, sie ist immer ganz, ein geschlossener Kreis, sie ist total. Dieser Trauer kann nur der Wunsch nach einer radikalen Veränderung folgen. Sie treibt die Tierrechtsbewegung in ihrer Tiefe voran. Diese Trauer kommt vor dem verzweifelten Bemühen, etwas grundlegend zu verändern und die Wurzeln für das immense und vielfältige Leid der Tiere aus dem verkrusteten Boden versteinerter Ideologien und menschgemachter Rechtfertigungen herauszureißen. Trauer und Radikalität gehen hier Hand in Hand. Beide gibt es nur zu hundert Prozent.
Waren Martin Luther King und Gandhi in ihrem Kampf für Gleichheit und Freiheit radikal? Wie hätten sie es nicht sein können? Beide haben sich bedingungslos für etwas eingesetzt und beide mussten dafür ihr Leben lassen. Doch diese zwei Menschen haben tatsächlich das Fundament für einen grundlegenden Wandel gelegt. Und sie konnten nur radikal in ihren Bestrebungen für eine bessere Welt sein, auch wenn sie es auf eine friedliche Art und Weise taten. Nicht halb oder dreiviertel. Nicht nur ein bisschen Freiheit von der englischen Herrschaft in Indien, nicht nur ein klein wenig Gleichheit für Menschen mit einer dunklen Hautfarbe. Ihre Bemühungen waren ausschließlich, ein geschlossener Kreis, von dem man nichts wegnehmen konnte. Auch die Tierrechtsbewegung kann vom Grundsatz her nur radikal sein. Ihr Bestreben ist die Anerkennung des Rechts auf Leben durch den Menschen. Für alle Wesen. Nicht nur ein bisschen Leben in ein bisschen besseren Verhältnissen, bevor es zum Schlachthaus geht. Nicht nur ein bisschen weniger Tiere, die verzehrt werden. Nicht nur ein paar gerettete Strassenhunde und kein gerettetes Kälbchen. Nicht nur weniger Tierversuche, sondern gar keine Tierversuche mehr.
Es gibt kein bisschen Recht auf Leben, es gibt nur ein Recht auf Leben.
© Daniela Böhm
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