Anschaulich und dramatisch wie vielleicht sonst niemand beschreibt Arthur Schopenhauer die Leidensbestimmtheit und Leidensdurchdrungenheit des Lebens. Grundlage der folgenden Darstellung sind die Kapitel 46 und 49 der „Ergänzungen zum dritten Buch“ von Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“, zweiter Band, zweiter Teilband:*
Jeder befriedigte Wunsch gebiert einen neuen und keine mögliche Befriedigung kann unser Verlangen je wirklich stillen. Das Leben ist ein fortgesetzter Betrug, im Großen wie im Kleinen: Was es verspricht, hält es nicht, „es sei denn, um zu zeigen, wie wenig wünschenswerth das Gewünschte war.“ (S. 671) So täuscht uns einmal die Hoffnung, dann wieder das Gehoffte.
„Die Belehrung, welche Jedem sein Leben giebt, besteht im Ganzen darin, daß die Gegenstände seiner Wünsche beständig täuschen, wanken und fallen, sonach mehr Quaal als Freude bringen, bis endlich sogar der ganze Grund und Boden, auf dem sie sämmtlich stehn, einstürzt, indem sein Leben selbst vernichtet wird und er so die letzte Bekräftigung erhält, daß all sein Streben und Wollen eine Verkehrtheit, ein Irrweg war.“ (S. 672)
Da unser Leben etwas ist, das besser nicht wäre, „trägt Alles, was uns umgiebt, die Spur hievon – gleich wie in der Hölle Alles nach Schwefel riecht“ (S. 675): Alles ist unvollkommen und trügerisch, alles Angenehme mit Unangenehmem versetzt, jeder Genuß ist immer nur ein halber, jedes Vergnügen enthält seine eigene Störung, die Stufe, auf die wir treten, bricht oft unter uns und wir müssen erkennen, daß „Unfälle, große und kleine, das Element unsers Lebens sind“. (S. 676)
Das Leben ist also ein einziges Verlustgeschäft – was wir freilich erst spät, wenn überhaupt, bemerken. Hätten wir die Möglichkeit, eine freie und informierte Entscheidung zu treffen, würden wir erst gar nicht geboren werden wollen: „Da wird denn das Leben für ein Geschenk ausgegeben, während am Tage liegt, daß Jeder, wenn er zum voraus das Geschenk hätte besehn und prüfen dürfen, sich dafür bedankt haben würde.“ (S. 678)
Die Welt ist ein „Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehn, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Thier das lebendige Grab tausend anderer“ (S. 680) ist. Kehrseite der Selbsterhaltung ist eine „Kette von Martertoden“ (ebenda) anderer. Und mit der Erkenntnisfähigkeit wächst auch das Schmerzempfinden, das daher beim Menschen am ausgeprägtesten ist und umso größer, je intelligenter jemand ist.
Diese Welt mit optimistischen Augen zu sehen, ist daher eine „schreiende Absurdität“. (Ebenda) Optimismus ist aber nicht nur unberechtigt, sondern auch schädlich, „denn er stellt uns das Leben als einen wünschenswerthen Zustand, und als Zweck desselben das Glück des Menschen dar.“ (S. 684) Folgerichtig halten wir es dann für eine Ungerechtigkeit, wenn sich dieses Glück nicht einstellt, wir glauben, den Zweck des Daseins zu verfehlen, wenn wir nicht glücklich sind. Dabei wäre es „viel richtiger …, Arbeit, Entbehrung, Noth und Leiden, gekrönt durch den Tod, als Zweck unsers Lebens zu betrachten“. (Ebenda)
Der Glaube, daß wir auf Erden seien, um glücklich zu sein, ist unser Grundirrtum. Und so lange wir in diesem Irrtum verharren, erscheint uns die Welt voller Widersprüche. „Denn bei jedem Schritt, im Großen wie im Kleinen, müssen wir erfahren, daß die Welt und das Leben durchaus nicht darauf eingerichtet sind, ein glückliches Daseyn zu enthalten.“ (S. 743) Haben wir diesen Grundirrtum erst einmal erkannt, sehen wir die Welt in völlig anderem Lichte und werden uns über „Unfälle, jeder Art und Größe“ (S. 745) nicht mehr wundern.
Eigentlicher Zweck des Lebens ist das Sterben: Der Tod ist das Ergebnis des Lebens, „die zusammengezogene Summe, welche die gesammte Belehrung, die das Leben vereinzelt und stückweise gab, mit Einem Male ausspricht, nämlich …, daß das ganze Streben … ein vergebliches, eiteles, sich widersprechendes war, von welchem zurückgekommen zu seyn eine Erlösung ist.“ (S. 747) Indem der Tod alles, was wir gewollt haben, mit einem Schlag zerstört, setzt er der Belehrung, die das Leben schrittweise gab, die Krone auf.
Diese traurigen und tragischen Zusammenhänge zu erkennen, ist, da in hohem Maße vernunftbedingt, nur dem Menschen, nicht dem Tiere, möglich – natürlich nicht jedem, aber zumindest prinzipiell. Nur der Mensch kann „den Becher des Todes“ (ebenda) wirklich leeren, die Menschheit ist „die alleinige Stufe, auf welcher der Wille sich verneinen und vom Leben ganz abwenden kann“. (Ebenda) Und dies – die Verneinung Willens (gemeint ist das ruhelose Begehren, das, was Freud später „Trieb“ nannte) und das Sich-Abwenden vom Leben – ist auch das anzustrebende Ziel.
Soweit Schopenhauers Darstellung der Leidensbestimmtheit und Leidensdurchdrungenheit des Lebens. Dieser philosophischen Perspektive entspricht nebenbei bemerkt die biologische Tatsache, daß die ganze Evolution nicht zuletzt ein gigantischer Leidensgenerator ist: Für alles bewußte Leben bedeutet der dauernde evolutionäre Wettbewerb, das ständige Kräftemessen, Siegen, Verlieren und Sterben unablässiges und kolossales Leiden.
Auch wer Schopenhauers „Pessimismus“ nun für übertrieben hält und seine metaphysischen Annahmen nicht teilen mag, wird ehrlicherweise einräumen: Hier haben wir es mit einer grandiosen und vor allem mit einer zutreffenden Beschreibung der Grundverfaßtheit des Lebens zu tun. Um es mit Freud zu sagen: Das Programm des Lustprinzips scheint „im Hader mit der ganzen Welt“ zu sein. Zwischen dem, was wir uns wünschen, und dem, was wir dann bekommen, besteht eine oft große und nicht selten eine grausame Differenz.
Und das nicht nur bei den großen Dingen – Liebe des Lebens, Ziele des Lebens usw. -, sondern auch bei den alltäglichen und täglichen: Wir können (soferne wir glücklicherweise nicht in Hungerregionen zu leben) nicht essen, was wir wollen, weil wir zu dick würden, wir können nicht rauchen und trinken, was wir wollen, weil wir krank würden, wir kriegen nicht den Sex, den wir wollen, und so weiter und so fort. Tiere erleben diese dauernde Differenz zwischen dem, was sie wollen, und dem, was sie bekommen, in gewisser Weise noch viel schlimmer, dramatischer und elementarer: weil sie ihren Trieben und Bedürfnissen noch viel stärker und unmittelbarer ausgeliefert sind als wir Menschen.
Unabhängig von Schopenhauers „Pessimismus“ und Metaphysik wird man ihm aber nicht nur im Hinblick auf die Leidensbestimmtheit des Lebens zustimmen, sondern, so ergeht es jedenfalls mir, auch im Hinblick auf die Konsequenzen: In der Ethik geht es vor allem darum, selbst kein Leiden zu verursachen und Leiden zu lindern und zu verhindern, wo wir können.
Damit sind wir bei einem entscheidenden Punkt für die Tierrechtsbewegung: Deren Programm und Zielsetzung, tierliches Leiden lindern und verhindern, erweisen sich als noch viel größere und grundsätzlichere Aufgabe als vermutet. Denn es geht keineswegs nur um menschenverursachtes tierliches Leiden, sondern um tierliches Leiden überhaupt. Selbst wenn wir Menschen den Tieren gar kein Leiden verursachen würden, hätten wir viel zu tun. Zur Aufgabe einer fundamental verstandenen Tierrechtsbewegung gehört es nämlich auch, die skandalös schlecht organisierte Schöpfung so weit wie möglich und so wirksam wie möglich zu sabotieren – indem wir Leiden lindern und verhindern, wo wir können, einer völlig fehlgeschlagenen Schöpfung den Krieg erklären, dem Teufel ins Handwerk pfuschen, ihm so viele Opfer wie möglich entreißen.
Tieren diese Hilfe angedeihen zu lassen, ist umso wichtiger, als sie selber keinerlei Chance haben, das teuflische System, in dem sie gefangen sind, zu erkennen, geschweige denn, sich von ihm zu lösen. Sie sind dem diabolischen Leidenserzeugungssystem Leben hilflos ausgeliefert. Daß wir Menschen auf die „natürliche Hölle“ noch eine „künstliche“ in Form von Tierfabriken, Versuchslabors usw. draufgesetzt haben, macht unsere moralische Verantwortung umso größer.
*Arthur Schopenhauer: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Zürich: Diogenes, 1977. Band IV.
© Helmut F. Kaplan
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Helmut Kaplan (19.11.2010; 11:42 Uhr)
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