Helmut F. Kaplan

Was ist Liebe? Ich meine jene Liebe, die mit Verliebtheit einhergeht, mit „höherem Herzschlag“, mit „Schmetterlingen im Bauch“ usw. – und die, wenn sie unerfüllt bleibt oder endet, schrecklich wehtut. Auf der Erlebensebene ist diese Art Liebe, die sogenannte „romantische Liebe“, wohl am besten beschreibbar als fundamentale Abhängigkeit vom Liebesobjekt: Sind wir mit ihm vereint, ist alles gut, sind wir von ihm getrennt, ist die Sehnsucht schrecklich. Eine 27jährige Ärztin berichtet:

„Als sich mein Mann immer mehr von mir zurückzog und ich gar keine Möglichkeit mehr sah, ihm nahe zu kommen, habe ich mit der Hand die Glastür zu seinem Zimmer eingeschlagen. Ich merkte nur noch, wie mir das Blut herunterlief und auf den Teppich tropfte … Ich war verrückt, ich wollte einfach zu ihm, wollte die Glaswand zerschlagen, die ich zwischen ihm und mir spürte.“ (Schmidbauer, 1980, S. 52)

Über die Grundlagen dieser Form von Liebe wurden in den letzten Jahren und Jahrzehnten so viele Bücher geschrieben, daß man damit ganze Bibliotheken füllen kann. Und es besteht wohl kein Zweifel daran, daß diese Liebe, so „geistig“ und ätherisch sie sich zuweilen auch anfühlen mag, ihre Grundlage in körperlichen Zuständen und Vorgängen hat, sie beruht auf unserer Sexualität. Liebe ist genauso von Sexualität abhängig wie unser Bewußtsein von Gehirnprozessen abhängig ist. Aber sowenig unsere Gedanken und Gefühle dadurch entwertet werden, daß sie physiologische Grundlagen haben, sowenig wird auch die Liebe dadurch entwertet, daß sie auf Sexualität beruht. Hubert Rohracher (1971) hat dieses Nicht-entwertet-Werden für unsere Gedanken und Gefühle wunderbar beschrieben:

„Daß das gesamte psychische Geschehen von Gehirnprozessen abhängt, ist sicher – so sicher, wie eine naturwissenschaftliche Erkenntnis überhaupt sein kann. Es ist aber gar nicht einzusehen, warum die Gefühle für Freiheit und Recht oder das Streben nach sozialer Gerechtigkeit dadurch, daß ihnen Erregungsprozesse im Gehirn zugrunde liegen, entwertet werden könnten – so wenig die Schönheit einer Blume dadurch entwertet werden kann, daß sie in der Erde wurzelt.“ (S. 68)

Die Einzelheiten der körperlichen Fundierung „geistiger“ Liebe brauchen uns nicht zu kümmern, weil es uns hier um eine Begleiterscheinung dieser Liebe geht bzw. um ein Element dieser Liebe: die allumfassende selbstlose Sorge und Fürsorge gegenüber dem Liebesobjekt. Bevor wir fortfahren, muß aber auf eine Merkwürdigkeit in unseren Vorstellungen über die Liebe verwiesen werden:

Alle, die von der Liebe reden, gehen wie selbstverständlich davon aus, daß jeder unter Liebe das gleiche versteht: Zwar ist es eine Kernfrage aller Bücher, Filme und Gespräche über Liebe, ob es sich denn bei einer bestimmten Beziehung um „wirkliche Liebe“ handle, aber was „wirkliche Liebe“ ist, scheint für alle Beteiligten sonnenklar zu sein. Das „weiß“ man offenkundig. Die Frage ist freilich, ob alle das gleiche „wissen“, d. h. die gleichen Vorstellungen von Liebe haben bzw. die gleichen Elemente mit Liebe verbinden.

Wie auch immer – ich beteilige mich insofern an diesem „Selbstverständlichkeitsspiel“, als ich sage: Bei mir ist ein Element dieser romantischen Liebe das, was ich als selbstlose Liebe bezeichnen möchte: die selbstlose Sorge und Fürsorge gegenüber dem Liebesobjekt. Man ist in seinem Denken und Handeln gegenüber dem geliebten Wesen einfach „gut“, wünscht ihm ein gutes Leben und will ihm Leiden ersparen. Diese Sorge und Fürsorge ist im buchstäblichen und übertragenen Sinne tendenziell grenzenlos. Ein Gedanke aus meinem Buch „Leben – Lieben – Leiden“ verdeutlicht vielleicht, was ich meine:

„Was wäre, wenn mein Kind nicht hier, bei mir, sondern ganz woanders geboren worden wäre, in Afrika, in China, in einem anderen Jahrhundert, in einem anderen Jahrtausend? Ich könnte ihm nie helfen, ihm nie beistehen, ihm nichts erklären, es würde mich nie sehen, mich nie kennenlernen! Solche Gedanken sind es, die zum Wahnsinn führen. Und zur Ethik.“ (Kaplan, 2008, S. 88)

Sollte diese selbstlose Liebe nicht durchgängiger Bestandteil der romantischen Liebe sein, so ist sie auf alle Fälle nicht nur Bestandteil, sondern sogar Wesensmerkmal der Liebe zwischen Eltern und Kindern.

Was ist Ethik?

Bei aller Unterschiedlichkeit einzelner ethischer Ansätze läßt sich allgemein wohl sagen: Ethik ist Altruismus – also Selbstlosigkeit (vgl. etwa Rachels, 1990, S. 77). So sah es beispielsweise auch Arthur Schopenhauer (vgl. etwa Wolf, 1990, S. 48) und so sieht es beispielsweise auch Peter Singer: „Ethisch leben heißt über Dinge nachdenken, die jenseits des eigenen Interesses liegen.“ (Singer, 1996, S. 196) Eigeninteresse und Ethik bilden ein Gegensatzpaar. (Ebenda, S. 14)

Ethik als Selbstlosigkeit – ein im Zusammenhang mit dem vorhin über die (selbstlose) Liebe Gesagten bemerkenswerter Befund: Liebe und Ethik als im Grunde oder doch zumindest teilweise gleiche Phänomene! Und wo liegt der Unterschied? Nun, zunächst einmal bezieht sich die selbstlose Liebe eben auf jemanden, den wir lieben, also gut kennen, während sich ethisches Verhalten grundsätzlich auf alle bezieht, die von unseren Handlungen betroffen sind oder betroffen sein können.

Zweitens ist Ethik quasi eine inhaltlich konkretisierte Form der selbstlosen Liebe: Je nach ethischem Ansatz wird das selbstlose Handeln gegenüber anderen genauer bestimmt. Etwa, indem gefordert wird, nur nach Regeln zu handeln, die allgemeines Gesetz werden könnten (kategorischer Imperativ). Oder daß man andere so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden möchte (Goldene Regel). Oder daß man nicht stehlen oder töten soll (Zehn Gebote).

Ethik kann also beschrieben werden als inhaltlich präzisierte und im Hinblick auf die Betroffenen erweiterte (selbstlose) Liebe. Die (selbstlose) Liebe zu einer bestimmten Person oder zu einem bestimmten Wesen könnte demnach quasi als Atom, als Kern der Ethik betrachtet werden. Oder, anders herum: Ethik als generalisierte und quasi in Regeln geronnene (selbstlose) Liebe.

Diese Sicht deckt sich weitgehend mit Schopenhauers Auffassung, wonach in moralischen Maximen die Energie des Mitleids, des ethischen Urphänomens, quasi konserviert ist. (Schopenhauer, 1977, S. 270-272, 254) Schopenhauer charakterisiert das ethische Grundphänomen also nicht (wie wir es vorhin taten) als selbstlose Sorge und Fürsorge, sondern als Mitleid. Das kann man als Präzisierung in Richtung Realität des Lebens betrachten: Da das Leben nun einmal vor allem aus Leiden besteht, äußern sich Sorge und Fürsorge vor allem (auch) im Mitleiden, im Mitleid. Dazu Albert Schweitzer:

„Alles Leben ist Leiden. Der wissend gewordene Wille zum Leben ist also von tiefem Mitleid mit allen Geschöpfen ergriffen. Er erlebt nicht nur das Weh der Menschen, sondern das der Kreatur überhaupt mit. Was man in der gewöhnlichen Ethik als ‘Liebe‘ bezeichnet, ist seinem wahren Wesen nach Mitleid.“ (Schweitzer, o. J., S. 295)

Umsetzen von Ethik

Nun gibt es ein Problem, das allen, denen Ethik nicht nur ein theoretisches, sondern vor allem auch ein praktisches Anliegen ist, nur zu bekannt ist: Ethik bzw. ethische Positionen sind für sich genommen zunächst einmal lediglich mehr oder weniger abstrakte, auf alle Fälle aber quasi statische Phänomene: Sie wirken sich (noch) nicht auf das Verhalten aus. Ethik alleine macht noch niemanden ethisch, könnte man sagen; Ethik an sich beinhaltet noch keinen (hinreichenden) Impuls in Richtung Umsetzung ihres Inhalts.

Und man kann auch niemanden in ethisches Handeln quasi hineinreden, sprich: (argumentativ) dazu bringen, ethisch zu handeln. Man kann jemandem eine ethische Position erklären, man kann sie ihm näherbringen, ja man kann ihn sogar von ihrer Richtigkeit überzeugen – aber man kann ihn nicht zwingen, auch entsprechend zu handeln. Dazu ein Vergleich (dessen Urheber ich nicht mehr ausfindig machen konnte): Man kann jemanden zu einer Quelle führen, aber trinken muß er dann selber. Soll heißen: Man kann jemandem ethische Argumente plausibel machen und ans Herz legen, aber anwenden bzw. umsetzen muß er sie dann selber.

Ohne emotionales Engagement, ohne einfühlende Anteilnahme bleiben ethisches Theoretisieren und ethische Prinzipien folgenlos. Ethik ohne emotionale Anteilnahme ist wie Theologie ohne religiöse Gefühle, eine intellektuelle Spielerei, wie Bernard E. Rollin (1981, S. 151) treffend bemerkt. Vor vielen Jahren ging ich mit Peter Singer und meinem Ethikprofessor spazieren. Letzterer meinte gegenüber Singer im Hinblick auf dessen ethischen Argumente für den Vegetarismus sinngemäß: „Aber“, im echten Leben quasi, „Sie essen schon Fleisch?“ Mein Professer hielt Singers Ethik also für nichts weiter als eine originelle intellektuelle Spielerei ohne persönliche praktische Konsequenzen.

Zur Ethik, zu moralischen Grundsätzen muß also etwas hinzukommen, um sie verhaltenswirksam werden zu lassen. Schopenhauer hat dieses „Mobilisierungsproblem“ der Ethik klar erkannt – und so gelöst bzw. beantwortet: Mitleid ist nicht nur die Grundlage der Ethik, sondern auch die eigentliche Triebfeder moralischen Handelns. (Schopenhauer, 1977, S. 272 f.) Deshalb sei es auch ratsam, moralischen Maximen durch Wecken von Mitleid quasi auf die Sprünge zu helfen: „Im Gefühl dieser Wahrheit geschieht es oft, daß dem öffentlichen Aufruf zur Wiederbringung verlorenen Geldes die Versicherung hinzugefügt wird, der Verlierer sei ein armer Mensch, ein Dienstbote u. dgl.“ (Ebenda, S. 255)

Nun liegt es in der Natur der Mobilisierung ethischen Handelns durch Mitleid, daß diese Mobilisierung nicht „zentral“ bzw. ein für alle Mal erfolgt, sondern anlaß- bzw. adressatenbezogen – siehe Schopenhauers obiges Beispiel. Außerdem gilt es zu beachten, daß es sich beim Mitleid um ein (primär) emotionales Phänomen handelt, dessen Zustandekommen seinerseits von Faktoren abhängt, die, aus ethischer Gesamtperspektive betrachtet, höchst willkürlich sind. Zwei Beispiele:

Wenn ich das Tier, dessen Leichenteile ich im Restaurant bestelle, selbst töten müßte, käme bei mir höchstwahrscheinlich Mitleid auf. Da dieses Tier aber im Rahmen eines institutionalisierten und undustrialisierten Herstellungs- und Verarbeitungsprozesses igendwo von irgendjemandem umgebracht wird, entsteht bei mir kein Mitleid. Oder: Beim Piloten, der aus großer Höhe eine tödliche Bombe auf ein Gebäude, in dem sich hundert Personen befinden, abwirft, wird kein (direktes) Mitleid aufkommen. Wenn er die gleichen Menschen aber eigenhändig und einzeln erschießen müßte, sähe sie Sache vermutlich ganz anders aus.

Auf der Handlungsebene ist Ethik also eine Angelegenheit, bei der emotionale und willkürliche Faktoren eine große Rolle spielen. Diese quasi Verwässerung ethischer Grundsätze im Zuge ihrer praktischen Umsetzung durch emotionale und willkürliche Elemente ist in Wirklichkeit aber meist noch wesentlich ausgeprägter, als es die bisherigen Ausführungen vermuten lassen. Denn den „Idealfall“, daß eine bestimmte ethische Überzeugung durch Mitleid verhaltensaktiv wird, werden wir in der Realität nur ausnahmsweise und nur annäherungsweise antreffen. Im Falle des Ethikers nämlich (also eines Menschen, der sich von Berufs wegen mit Ethik befaßt), der eine bestimmte ethische Position vertritt und bei dem diese dann durch Mitleidsimpulse beim Handeln zum Tragen kommt.

Die tägliche Praxis moralischen Handelns sieht aber anders aus: Die meisten Menschen orientieren sich nicht an einem, sondern an mehreren moralischen Prinzipien, etwa an der Goldenen Regel, am Gleichheitsprinzip und an den Zehn Geboten. Ihr moralisches Handeln stellt sich dann als irgendeine „Mischung“ aus diesen Prinzipien dar. Aber selbst diese Beschreibung wird in aller Regel viel zu „hochgegriffen“, sprich: viel zu theoretisch sein. Denn oft handeln Menschen, wenn sie moralisch richtig handeln wollen, (bewußt) nach gar keinen bestimmten moralischen Prinzipien, sondern einfach in der Absicht, „das Richtige“ tun zu wollen, „moralisch“ sein zu wollen. Daß diese Haltung bzw. Praxis dann in hohem Maße „emotions- und willkürgeladen“ ist, liegt auf der Hand.

Nach diesen Überlegungen sind wir nun vielleicht besser imstande, einige Fragen, die uns im Zusammenhang mit Tieren und Tierrechtlern immer wieder begegnen, besser verstehen bzw. erklären zu können. Etwa:

1) Wie ist es möglich, daß Menschen, die die ethischen Argumente gegen das Fleischessen vollkommen verstehen und auch akzeptieren, dennoch weiterhin Fleisch essen?

2) Wie ist es möglich, daß manche Tierexperimentatoren offenbar durchaus fürsorgliche und liebevolle Väter sind?

3) Wie ist es möglich, daß Menschen, die aus moralischen Gründen vegan leben, sich gegenüber ihren Mitmenschen oft so extrem unmoralisch verhalten?

Zur ersten Frage. Nun, dieses Phänomen können wir jetzt recht rasch erklären: Ethik alleine bzw. ethische Positionen an sich wirken sich noch nicht auf das Verhalten aus. Kommt keine emotionale Aktivierung hinzu, bleiben ethische Einsichten praktisch wirkungslos.

Frage 2 (Wie ist es möglich, daß manche Tierexperimentatoren offenbar durchaus fürsorgliche und liebevolle Väter sind?): Dieses Phänomen können wir mit dem vorliegenden kategorialen Unterschied zwischen den eigenen Kindern, die Objekte selbstloser Liebe sind, und allen anderen Wesen, die Objekte der Ethik (der quasi generalisierten und in Regeln geronnenen selbstlosen Liebe) sind, erklären: Daß wir unsere „Nächsten“ besser behandeln als andere, ist ein bekanntes und allgemeines (und ethisch höchst komplexes) Phänomen, auf das wir hier nicht weiter einzugehen brauchen.

Eine etwas größere Herausforderung im Hinblick auf ihre Erklärung stellen aber folgende Fälle dar: Tierexperimentatoren und andere Tierquäler, die nicht nur liebevolle Väter sind, sondern sich darüber hinaus auch für andere Menschen engagieren, etwa für Asylanten oder Angehörige diskriminierter Minderheiten. Aber auch hierfür gibt es eine naheliegende und schlüssige Erklärung: Aufgrund der jahrtausendelangen abendländischen speziesistischen Tradition – auf religiöser, philosophischer und im Gefolge auf Alltags-Ebene – werden Tiere in derart hohem Maße als moralisch minderwertig bzw. moralisch weniger wichtig betrachtet, daß dadurch praktisch jede Schlechterbehandlung von Tieren hinreichend erklärbar ist.

Beachtenswert und wesentlich ist, daß sich diese moralische Minderbewertung von Tieren auch negativ auf das Mitleid mit Tieren auswirkt bzw. auswirken kann! (Vgl. Kaplan, 2001, S. 30-33) Um dies erkennen und verstehen zu können, vergegenwärtigen wir uns zunächst einmal folgendes: Sagen wir, ich bin in eine Person verliebt, die ich erstens für moralisch minderwertig halte und die mir zweitens „einen Korb gegeben“ hat. In nicht unwesentlichem Maße kann ich nun meine Liebe und Sehnsucht, also emotionale Phänomene, quasi „wegrationalisieren“, indem ich mir die moralische Minderwertigkeit des Liebesobjekts anschaulich vergegenwärtige: Eine moralisch derart fragwürdige Person ist es nicht wert, so geliebt zu werden.

Gefühlsreduktion durch rationale Erwägung also.
Eine vergleichbare Wirkung kann die moralische Minderbewertung von Tieren auf unser Mitleid mit ihnen haben: Wenn Tiere moralisch nicht so wichtig sind, dann ist auch ihr Leiden nicht so wichtig und unser Mitleid mit ihnen nicht so berechtigt. Also wiederum: Gefühlsreduktion (genauer: Mitleidreduktion) durch rationale (genauer: ethische) Erwägungen. Diese mitleidmindernde Wirkung moralischer Konzepte und Vorstellungen ist umso stärker, als die moralische Minderbewertung von Tieren ja traditionell „garniert“ wird mit faktischen Fehlinformationen über das Leiden und die Leidensfähigkeit von Tieren.

Egoismus und Ethik

Nun zur dritten Frage: Wie ist es möglich, daß Menschen, die aus moralischen Gründen vegan leben, sich gegenüber ihren Mitmenschen oft so extrem unmoralisch verhalten?

Zunächst: Immer wieder ist zu beobachten, daß bei bestimmten Menschen das Vegansein mit der Zeit zunehmend in den Hintergrund tritt und andere Handlungsmotive die Oberhand gewinnen. Das heißt weder, daß diese Menschen aufhörten, vegan zu leben, noch, daß sie nicht mehr aus moralischen Gründen vegan lebten. Aber der Veganismus wird immer mehr zur Rolle, zur Pose, zur „Hintergrundmusik“ quasi für andere Absichten und Ziele.

Zwei typische Beispiele für dieses Phänomen sind der Profilneurotiker und der Mitläufer. Der Profilneurotiker – typischerweise Vorsitzender irgendeines Vereines oder dergleichen – sieht zunehmend alles nur mehr unter dem Aspekt: Wie kann ich noch „berühmter“ werden? Für den Mitläufer bilden Veganismus bzw. Tierrechte einfach das identitätsstiftende Moment in seinem Leben. Im kritiklosen Nachbeten von Glaubenssätzen ähnelt er dem Gläubigen, der religiöse Dogmen nachbetet.

Daß sich Veganer dieses Zuschnitts in ihrem Verhalten gegenüber ihren Mitmenschen nicht unbedingt als „bessere Menschen“ erweisen, wird wenig überraschen. Vor allem aber muß in diesem Zusammenhang endlich ein Phänomen gewürdigt werden, das so allgegenwärtig und so allgewaltig ist, daß man es leicht übersieht: der Egoismus – das wichtigste Handlungsmotiv der Menschen und der große Gegenspieler von Mitleid und Ethik. Kommt Egoismus erst einmal zum Tragen, wächst quasi kein moralisches Gras mehr. Wo egoistische Impulse auf ethische Einstellungen treffen, obsiegen meist die egoistischen Impulse. Dies umso mehr, wenn die ethischen Einstellungen von vornherein eher vorgegaukelt denn echt sind. Der Egoismus ist der mit Abstand wichtigste Erklärungsfaktor menschlichen Verhaltens. Er ist, pathetisch formuliert, die Trumpfkarte des Teufels auf Erden. Denn:

„Das Hauptproblem im Zusammenhang mit moralischem Handeln ist … nicht, daß die Menschen nicht WISSEN, was sie sollen, sondern, daß sie nicht TUN, was sie sollen. ( … ) Unser größtes Problem besteht … darin, daß wir uns nicht durchringen können, das, was wir für richtig halten, auch in die Tat umzusetzen.“ (Kaplan, 2001, S. 13 f.) Und der Grund dafür, daß wir nicht tun, was wir für richtig halten, ist in aller Regel unser Egoismus.

Die meisten Menschen betreiben Ethik als Schönwetter-Freizeitbeschäftigung: Solange sie nichts kostet, sprich: keine Opfer erfordert – wunderbar. Sobald Ethik aber anstrengend würde, tritt zuverlässig ein Zwei-Stufen-Plan in Kraft: Zuerst wird versucht, seinem Egoismus einen ethischen Anstrich zu verpassen – „nirgends lassen sich unethische Motive besser verstecken als hinter ethischen Theorien und ethischem Gehabe“ (Kaplan, 2001, S. 15). Und wenn das nicht mehr funktioniert, läßt man seinem Egoismus einfach freien Lauf. Damit befindet man sich dann zwar nicht in guter, wohl aber in großer Gesellschaft.

Literatur:
Kaplan, Helmut F.: Leben – Lieben – Leiden. Norderstedt: Books on Demand, 2008.
Kaplan, Helmut F.: Wozu Ethik? Bad Nauheim: ASKU-PRESSE, 2001.
Rachels, James: Created From Animals. Oxford: Oxford University Press, 1990.
Rohracher, Hubert: Einführung in die Psychologie. Wien: Urban & Schwarzenberg, 1971.
Rollin, Bernard E.: Animal Rights and Human Morality. Buffalo, New York: Prometheus Books, 1981.
Schmidbauer, Wolfgang: Alles oder nichts. Über die Destruktivität von Idealen. Reinbek: Rowohlt, 1980.
Schopenhauer, Arthur: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Zürcher Ausgabe (10 Bände). Zürich: Diogenes, 1977. Band VI.
Schweitzer, Albert: Gesammelte Werke in fünf Bänden. München: C. H. Beck, o. J. Band 2.
Singer, Peter: Wie sollen wir leben? Erlangen: Fischer, 1996.
Wolf, Ursula: Das Tier in der Moral. Frankfurt am Main: Klostermann, 1990.

Copyright: Helmut F. Kaplan

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