Merkwürdige Argumente zur Rettung von Gewohnheiten

Helmut F. Kaplan

Die eleganteste Methode, Menschen zu moralischem Handeln zu bewegen, ist wohl, sie dort abzuholen, wo sie sich moralisch bereits befinden, also ihre VORHANDENEN oder BEHAUPTETEN moralischen Überzeugungen ernstzunehmen. Wenn man dann zeigen kann, daß ihre moralischen Positionen zwingende Konsequenzen haben, die sie bis jetzt nicht gesehen haben, dann kann dies zumindest mittelfristig eine recht wirksame Strategie sein. Denn wer will sich schon – gerade in moralischen Fragen – einen Widerspruch zwischen Reden und Handeln vorwerfen lassen! Dazu zwei Beispiele:

„Du würdest doch auch deinen Hund oder deine Katze nicht umbringen und aufessen, oder? Warum dann aber Hasen und Schweine! Wo ist der Unterschied?“

„Angenommen, uns überlegene Außerirdische kämen auf die Welt und behandelten uns so, wie wir Tiere behandeln: Fändest du das moralisch in Ordnung? Wenn nicht: Warum soll es dann moralisch in Ordnung sein, daß wir Tiere so behandeln?“

Meist sind wir allerdings mit folgender Situation konfrontiert: Wir treffen bei den Menschen auf moralische Positionen, die sich bei näherer Betrachtung als sachlich oder argumentativ fehlerhaft, in sich widersprüchlich oder moralisch fragwürdig erweisen. Dazu folgende Beispiele:

„Tiere zu töten ist unvermeidlich“

Oft begegnet man folgendem Generaleinwand gegen „übertriebenen Tierschutz“ im allgmeinen und gegen die Forderung nach einer vegetarischen Lebensweise im besonderen: Tieren zu schaden, ja, Tiere zu töten, sei schlicht unausweichlich für den Menschen – wenn er denn überleben wolle. Schon beim Spazierengehen und Atmen töteten wir, ob wir das wollten oder nicht, kleine und kleinste Lebewesen.

Diese Position ist tatsächlich um nichts weniger absurd, als zu sagen: Es gibt so schrecklich viele leidende Menschen auf der Welt, denen ich nicht helfen kann, deshalb helfe ich gleich auch denen nicht, denen ich helfen könnte. Moralisch vorzuwerfen ist jemandem selbstverständlich nicht, was er NICHT kann, sondern was er KÖNNTE, aber dennoch nicht tut!

„Unser Umgang mit Tieren ist moralisch unbedenklich, weil er dem Recht des Stärkeren entspricht“

Vorangestellt sei ein Wort Rainer Maria Rilkes: „Wenn der Mensch doch aufhörte, sich auf die Grausamkeit der Natur zu berufen, um seine eigene zu entschuldigen!“ Unser Umgang mit Tieren im allgemeinen und unser Essen von Tieren im besonderen wird oft mit dem Hinweis gerechtfertigt: Fressen und Gefressenwerden – so funktioniere die Natur nun einmal. Und da auch der Mensch Teil dieser Natur sei, esse er eben die schwächeren bzw. ihm unterlegenen Tiere und nütze sie auch sonst für seine Zwecke.

Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Position freilich als alles andere als überzeugend: Da gibt es zunächst einmal einen bemerkenswerten Widerspruch: Ausgerechnet diejenigen, die ansonsten immer die UNÄHNLICHKEIT von Menschen und Tieren betonen (Mensch als „Krone der Schöpfung“, „Gottesebenbildlichkeit“ und „Vernunftbegabtheit“ des Menschen usw.), beziehen sich hier auf einmal auf eine angebliche ÄHNLICHKEIT von Menschen und Tieren: Wir, Menschen und Tiere, seien alle Teil der Natur und da herrschten nun einmal solche „Naturgesetze“.

Aber gerade in bezug auf das Fleischessen gibt es eben KEINE Ähnlichkeit zwischen Menschen und Tieren: (Fleischfressende) Tiere müssen Fleisch fressen, wir nicht. Wir haben eine Wahlmöglichkeit, (diese) Tiere nicht. Hinzu kommt noch eine spezielle Absurdität: Dieses Fressen-und-gefressen-werden-Argument wird häufig auch in bezug auf Tiere (z. B. Kühe) verwendet, die selbst gar keine anderen Tiere fressen!

Die entscheidende Schwäche des Verweises auf das „Recht des Stärkeren“ ergibt sich aber aus folgendem: Selbst wenn wir das „Recht des Stärkeren“ als quasi natürliches Prinzip akzeptieren, folgt daraus weder, daß wir psychologisch gezwungen sind, ihm zu gehorchen, noch, daß dieses Prinzip für uns moralisch bindend ist.

Denn würde aus der „Natürlichkeit“ des „Rechts des Stärkeren“ eine psychologische Notwendigkeit, ihm zu gehorchen, folgen, wäre es auch sinnlos, sich für den Frieden zu engagieren – weil Kriegführen zweifellos auch „natürlich“ ist und damit ebenfalls psychologisch unausweichlich wäre. Und würde aus der „Natürlichkeit“ des „Rechts des Stärkeren“ seine moralische Richtigkeit folgen, dann dürften wir auch Armut, Krankheit, Behinderungen und Katastrophen nicht bekämpfen, wenn sie eine „natürliche“ Ursache haben.

„Fleischessen ist moralisch unbedenklich, weil der Mensch schon immer Fleisch gegessen hat“

Nicht selten hört man Menschen vollkommen entgeistert sagen: Seit urdenklichen Zeiten, ja seit der Steinzeit, ißt der Mensch Fleisch. Warum um alles in der Welt soll das heute auf einmal moralisch falsch sein?

Nun erhebt sich zunächst einmal die Frage, ob es wirklich sinnvoll ist, sich ausgerechnet in moralischen Fragen auf die Steinzeit zu berufen. Vor allem aber: Nur weil etwas alt ist, ist es noch lange nicht erhaltungswürdig. Die Sklaverei hatte auch eine lange Tradition! Etwas Schlechtes wird nicht dadurch besser, daß es lange dauert. Kultur besteht – siehe Sklaverei, Rassismus, Sexismus, Menschenopfer, Gladiatorenkämpfe usw. – nicht darin, unkritisch am Alten festzuhalten, sondern Kultur besteht im Gegenteil darin, immer kritisch zu prüfen, ob das Überlieferte nicht längst überholt ist.

Copyright: Helmut F. Kaplan

Dieser Text beruht auf dem Abschnitt „Menschen abholen, wo sie sind“ des 2009 erscheinenden Buches „Ich esse meine Freunde nicht“.

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