Fleckerl.

So hatte es einer der Mitarbeiter in dem großen Mastbetrieb kurz nach seiner Geburt halb scherzhaft genannt. Wegen des großen, runden und schwarzen Flecks auf seinem Hinterteil. Irgendwie sah dieser Fleck immer so aus, als wäre er nachträglich von irgendjemandem draufgemalt worden. Er schien gar nicht dorthin zu passen, auf diese rosa glänzende Haut und niemand konnte sich erklären, wieso ein einziges Ferkel in diesem Stall einen derartigen Fleck hatte. Der Tierarzt wurde verständigt, denn man hatte geglaubt, es könnte sich um eine Hautkrankheit oder einen Pilz handeln, doch der Verdacht erwies sich als unbegründet.

Fleckerl wusste nichts von seinem schwarzen Fleck, der ihn rein äußerlich von seinen Geschwistern und den anderen Ferkeln in dem Mastbetrieb unterschied. Und hätte er es gewusst, wäre es ihm sicherlich egal gewesen, denn wichtig waren andere Dinge, vor allem in den ersten Tagen seines jungen Daseins: die Milch seiner Mutter und die Nähe seiner Geschwister. Fleckerl ahnte nichts von der Not seiner Mama, die fast bewegungsunfähig in einer kleinen Box lag und die hungrigen Mäuler ihrer Jungen stillte. Und er wusste auch nichts von dieser Bürde, die ihr auferlegt worden war: Dass sie ständig wider ihre Natur gebären musste, um für einen ununterbrochenen Nachwuchs in dem Mastbetrieb zu sorgen.

Doch bereits sieben Tage nachdem Fleckerl in diese Welt gekommen war, erfuhr auch er, was Leid bedeutete. Ohne zu wissen, wie ihm geschah, wurde er gepackt, fortgebracht und in eine Apparatur gesteckt, die kaum noch eine Bewegung zuließ. Er quiekte ununterbrochen, er wollte zurück zu seiner Mama und seinen Geschwistern, doch wahrscheinlich hätte er lieber den Rest seines Lebens alleine verbracht, wenn ihm nur dieser Schmerz erspart geblieben wäre. Seine Beinchen wurden ihm gewaltsam auseinandergerissen und schon im nächsten Augenblick wurde er ohne Betäubung seiner kleinen Männlichkeit beraubt. Er wurde halb ohnmächtig vor Schmerz und übergab sich. Seinen männlichen Geschwistern erging es nicht anders und es sollte Tage dauern, bevor die Schmerzen halbwegs erträglich wurden. Die Unschuld und das Vertrauen, die noch vor Kurzem aus seinen kleinen Augen gestrahlt hatten, waren plötzlich fort, so wie leuchtende Sterne in einer Sommernacht, die plötzlich von Gewitterwolken überzogen wurden.

Nach fünf Wochen wurde Fleckerl zusammen mit zweien seiner Geschwister und drei anderen Ferkeln in eine neue Box verfrachtet. Zu sechst teilten sie sich ein paar Quadratmeter. In den ersten Tagen fehlte ihm seine Mutter, aber zumindest gab es familiäre Bande und damit einen vertrauten Geruch. Doch dieser verlor sich schon bald und stattdessen nahm Fleckerl jeden Tag mehr und mehr den beißenden Geruch der Gülle wahr, denn seine Nase und auch die der anderen Schweine, war sehr empfindlich. Der Boden seines kleinen Gefängnisses war mit Betonspalten ausgelegt, durch die ihre Körperausscheidungen hindurchfallen sollten. Natürlich landeten sie nicht immer genau in den Spalten, sondern oftmals daneben und die meiste Zeit stand Fleckerl auf einem schmierigen Untergrund. Die Halle des Betriebes war in dämmriges Licht gehüllt und Fleckerl lernte niemals den Tag von der Nacht unterscheiden. Dafür gab es reichlich und oft zu essen. Doch all das, was seiner Natur entsprochen hätte, konnte er nicht tun: Sich am Boden wälzen. Die Schnauze in kühles und klares Nass tauchen. Herumtoben. Die Erde nach interessanten Dingen durchstöbern. Sich die Sonne auf den runden Bauch scheinen lassen. Mit seinen Geschwistern spielen. Seine Mutter ärgern. Auf Entdeckungsreisen gehen und andere Tiere kennenlernen. Morgens zum ersten Hahnenschrei aufwachen. Und abends, bei Sonnenuntergang, wohlig in Schlaf und Stroh zu versinken.

All diese Dinge blieben für Fleckerl unerreichbar, und hätte er davon gewusst, wäre sein Dasein noch unerträglicher geworden, als es ohnehin schon war.

Von Tag zu Tag wurde Fleckerl verzweifelter. Am Schlimmsten war die Langeweile, die sich wie zäher Kaugummi durch den ganzen Stall zog und ein Netz spannte, aus dem kein Entrinnen möglich war. Es gab nichts, einfach gar nichts zu tun. Außer essen. Und ausscheiden. Die Wochen zogen dahin und mit der Zeit wurde die Langeweile zu einem Feind, den es zu bekämpfen galt. Man versuchte die anderen in den abgeschnittenen Schwanz zu beißen, manchmal auch in die Ohren oder in die Flanken. Man rieb sich seine empfindliche Schnauze an den Eisenstangen wund, mit denen die Box eingezäunt war, oder man biss auf ihnen herum, denn irgendetwas musste man doch tun, sonst würde man ja verrückt werden.

Dem schalen Wasser, das es zu trinken gab, waren reichlich Antibiotika beigemischt und so wurde man nicht krank. Zumindest körperlich. Doch man wurde krank in der Seele. Wie ein großer, bedrohlicher Schatten ergriff diese Krankheit der Seele auch von Fleckerl Besitz. Sie breitete sich in ihm aus und brannte sich in jede Faser und jede Zelle seines Körpers. Er konnte ihr nicht entkommen, genauso wenig wie seinem Gefängnis mit den Eisenstangen. Und wie eine kalte, schwere Eisenstange legte sich der Schatten auf Fleckerls Brust. Mit den Monaten wurde er trübsinnig, selbst seine Aggressionen ließen nach und aus seinen kugelrunden Augen verschwand allmählich jeglicher Glanz.

Ohne dass Fleckerl es wusste, begann er sich nach dem Tod zu sehnen. Nach einem Ende dieser qualvollen, stumpfsinnigen und immer gleichen Tage und Nächte.

Und auf einmal ist er da. Ganz unmerklich, auf leisen Sohlen und mit jedem Gramm Fett, das Fleckerl in den letzten Monaten zugelegt hat, hat sich der Tod angeschlichen und ist ihm immer nähergekommen. Doch heute spürt ihn Fleckerl das erste Mal, am Vorabend des Tages, an dem er vor fünf Monaten auf die Welt gekommen ist. Es ist ein kurzer, eisiger Hauch, der ihn erschauern lässt.

Da ist etwas, Fleckerl spürt es ganz genau.

Er weiß nicht, was es ist, aber es macht ihm Angst.

Auch die anderen Schweine scheinen es zu spüren, denn es entsteht eine Unruhe im Stall.

Mit bangem Herzen verbringt er diese letzte Nacht seines Lebens.

Noch einige Male streift ihn der eisige Hauch.

Und als der erste Morgen dämmert und die Männer kommen, die ihn fortholen, weiß er, dass dies nicht die Freiheit aus seinem Gefängnis bedeutet, die er sich so sehnlich gewünscht hätte.

Es bedeutet etwas ganz anderes.

Der eisige Hauch hat es ihm in der letzten Stunde der Nacht zugeflüstert.

Mit barschen Rufen wird er in ein anderes Gefängnis getrieben, das sich schon bald schwankend in Bewegung setzt.

Fleckerl wird übel.

Draußen ziehen Felder und Wiesen vorbei.

Fleckerl erhascht einen Duft von etwas, das er nicht kennt, aber es riecht gut.

Am Himmel tanzen ein paar Wolken.

Auf einem Bauernhof ertönt der erste Hahnenschrei.

Fleckerl hört ihn nur ganz undeutlich.

Ein paar Sonnenstrahlen streifen den Lastwagen.

Und an einem fernen Horizont erhebt sich ein Regenbogen.

Dort fährt Fleckerl hin.

In das Land hinter dem Regenbogen.

 

Nachher:

Das ist ein knusprig gebratenes Stück Schweinefleisch, welches von einem Wesen stammt, das leben und seiner Natur folgen wollte.

Vorher:

Das sind die Qualen und Leiden unserer kleinen Brüder und Schwestern, die Nutztiere genannt werden. Gebrauchsgegenstände und Werkzeuge werden besser behandelt als diese Tiere. Liebevoll und ordentlich werden sie in Kellern oder Garagen aufbewahrt und von ihren Besitzern gepflegt und gehegt. Wie ist es möglich, dass ein lebendes Wesen schlechter behandelt wird als irgendein Gegenstand?

***

Mit über 55 Millionen gemästeten Schweinen jährlich ist Deutschland der drittgrößte „Schweineerzeuger“ weltweit und der größte in der EU und längst „produziert“ Deutschland dabei viel mehr Fleisch, als es zur Selbstversorgung brauchen würde. (1)

Wie alle anderen Tiere leiden auch Schweine in einer nicht artgerechten Haltung und der intensiven Massentierhaltung. Schweine sind hochintelligent und sensibel, sie brauchen Herausforderungen (die sie in der Natur u. a. durch die Futtersuche finden würden), Platz, um sich zu bewegen und sind sehr geruchsempfindlich.

Was ist der Unterschied zwischen einem Schwein und einem Hund? Wieso wird in unseren Breitengraden aufgeschrien, wenn ein Hund oder eine Katze gequält wird und wieso wird das Quälen von Millionen Schweinen tagtäglich geduldet? Denn nichts anderes als Qual ist es für diese Tiere, wenn sie eingesperrt für die Fleischproduktion gemästet werden und unter entwürdigenden Umständen und in Langeweile auf ihren Tod dahinvegetieren. Wieso wird zwischen Tieren unterschieden, die man isst und Tieren, die man liebt? Warum sind die sogenannten „Nutztiere“ nicht genauso liebenswert wie die Haustiere?

Jede Art von Tierhaltung, die ihre Ausbeutung und Tötung bedeutet, ob es die Massentierhaltung ist oder auch eine tiergerechtere, verletzt dabei fühlende Lebewesen, die den Anspruch und das Recht auf Leben haben.

Artgerechte Tierhaltung wäre nur die Freiheit und ein am-Leben-lassen.

Aus: „Heute ist ein ganz anderer Tag“, Tierschicksale

©Copyright 2012 Daniela Böhm

www.danielaböhm.com

(1) Quelle WSPA, Online unter: URL: www.wspa.de/projekte_kampagnen…, am 17.11.2012

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