Es war einmal ein Engel namens Kurt. Ihr glaubt nicht an Engel? Nur weil Erwachsene sie nicht sehen, bedeutet das noch lange nicht, dass es keine gibt. Manche Kinder können sie sehen, aber wenn sie ihren Eltern davon erzählen, werden sie oft ungläubig belächelt. Die meisten Erwachsenen wollen nur an das glauben, was ihnen wirklich und fassbar erscheint. Sie haben die Welt hinter den Dingen vergessen; sie haben vergessen, wie es ist, ein Kind zu sein – mit diesem großen offenen Herzen und dem ungetrübten Blick.
Es gibt nicht nur Engel, die Menschen beschützen, sondern auch solche für die Tiere. Denn warum sollten nur die Menschen einen Engel an ihrer Seite haben? Das wäre ungerecht, oder? Jede Tierart hat ihren eigenen Engel und oft waren diese Engel vorher als Menschen auf der Erde. Weil sie ganz bestimmte Tiere besonders gerne mochten und liebten, wurden sie – nachdem sie diese Erde verlassen hatten – zu ihren Schutzengeln.
Es gab viele glückliche Engel – da war Tamina, der Engel der Schmetterlinge, die den ganzen Tag mit ihnen um die Wette flog. Natürlich konnten die Schmetterlinge Tamina sehen, denn alle Tiere sind sehend und blicken hinter die Dinge. Asaya war der Engel der Vögel – den ganzen Tag sang sie mit ihnen ihre Lieder und sobald es Abend wurde, flog sie geschwind auf die andere Seite der Erdkugel, um die Vögel dort bei ihrem Morgengesang zu begleiten. Johnny war der Engel der Frösche, er hüpfte immer mit ihnen um die Wette, das war ein Heidenspaß und die Frösche liebten ihn. Allerdings verloren sie meistens, denn als Engel war Johnny schneller als der schnellste Frosch. Manchmal ließ er sie jedoch absichtlich gewinnen – niemand sollte immer nur verlieren.
Aber es gab auch viele Engel, die sehr oft traurig waren. Kurt war einer davon. Er war der Engel der Schafe. Den ganzen Tag war er bei ihnen, er flog von einer Schafherde zur nächsten und besonders gerne sah er den Lämmern zu, wenn sie ungestüm und staksig über die Wiesen liefen, kaum dass sie auf die Welt gekommen waren. Er begleitete sie bei ihren ersten Freudensprüngen und passte auf, dass sie sich nicht wehtaten.
Es gab eine Zeit des Jahres, in der Kurt besonders unglücklich war; die Zeit vor dem Osterfest. Eigentlich war es da besonders schön auf der Erde, denn der Frühling hielt Einzug, die Schneeglöckchen und Krokusse hatten schon lange ihre Köpfchen aus der Erde gesteckt, auf den Wiesen zeigten sich bereits ein paar Gänseblümchen und an den Bäumen sprießte das erste zarte Grün. In der Tierwelt kündigte sich überall Nachwuchs an oder war schon da. Und natürlich hüpften viele Lämmer in ihren ungelenken Bewegungen über die Wiesen. Wenn sie ihre kleinen Freudensprünge machten, dachte Kurt immer, dass es kaum einen schöneren Ausdruck von Lebensfreude gab, als den der Lämmer.
Aber Kurt wusste nur zu gut, was mit den meisten von ihnen geschah und wie jäh dieser Ausdruck von Lebensfreude dem Leben wieder entrissen wurde. Er hatte nie verstanden, warum Tiere für die Menschen sterben mussten, auch nicht, als er noch auf der Erde gelebt hatte. Dass sie für ein Fest sterben mussten, das eigentlich dem Frühlingserwachen und dem Leben galt, schien ihm so grausam. Wie konnte man ein Fest des Lebens mit dem Tod anderer Lebewesen feiern? Das war doch absurd!
Schweren Herzens weilte Kurt in dieser mondhellen Nacht kurz vor Ostern bei einer kleinen Schafherde auf einer Koppel. Es war ungewöhnlich mild für die Jahreszeit, deshalb waren die Schafe draußen, selbst wenn die Nächte noch frostig waren. Die Lämmchen hatten sich fest an ihre Mütter geschmiegt und ahnten nichts von dem drohenden Unheil, das am nächsten Morgen über sie hereinbrechen sollte. Aber Kurt wusste davon. Er hatte den Mann gesehen, der heute mit dem Bauer gesprochen und auf die Lämmer gedeutet hatte.
Immer wieder blickte Kurt auf die friedlich schlafenden Wesen. Zur guten Nacht hatte er ihnen Sterne aus goldenem Licht und bunte Träume geschickt. Und am Nachmittag war er noch mit ihnen herumgetollt und die Lämmer hatten ihre piepsigen Mähmähs ausgerufen und sich ordentlich über ihren neuen Spielgefährten gefreut.
Je mehr die Nacht voranschritt, desto schwerer wurde Kurt zumute. Er schickte ein Stoßgebet ins Universum, dass wenigstens diesen Lämmern dieses eine Mal ihr grausames Schicksal erspart bliebe. „Bitte“, sagte er und blickte verzweifelt zu den Sternen. Auch Engel weinen und Kurt weinte in diesem Augenblick bitterlich. Die Tränen der Engel sind anders als die der Menschen. Sie sind wie kleine Diamanten aus violettem Licht und wenn sie auf die Erde fallen, passiert oft Wundersames.
Vor lauter Verzweiflung war Kurt ganz erschöpft und legte sich zu dem kleinsten Lamm, das behütet neben seiner Mutter schlummerte. Er schlief kurz ein, denn auch Engel müssen mal ausruhen.
Plötzlich hörte er ein Rascheln und leise, unterdrückte Stimmen. Erschrocken fuhr er hoch. War es bereits soweit? ‚Aber nein‘, überlegte er, ‚es ist noch ganz dunkel.‘ Dann sah er sie: Es waren drei Gestalten, ihre Gesichter konnte er nicht erkennen, denn sie hatten ihre Kapuzen tief hinabgezogen. Sie waren dunkel gekleidet, doch Kurt sah sofort das helle Licht in ihren Herzen.
‚Sie kommen um die Tiere zu retten’, dachte Kurt freudig. Er war sich dessen gewiss, er spürte es einfach. Und dann ging alles ganz schnell. Vorsichtig nahmen sie die kleinsten Lämmer in ihre Arme, den Müttern legten sie behutsam Stricke um ihren Hals und dann marschierten sie mit der kleinen Herde los. Ein paar Schafe mähten unwirsch oder ängstlich und Kurt hoffte inständig, dass der Bauer oder seine Frau nichts hörten. Aber alles ging gut und nicht weit entfernt wartete ein kleiner Laster und die Schafe wurden die Rampe hinaufgeführt.
Nun wurde Kurt doch etwas misstrauisch. Führten diese Menschen wirklich nichts Böses im Schilde? Wohin brachten sie die kleine Schafherde? Er beschloss den Transporter zu begleiten, um zu sehen, wohin er fuhr. Lange dauerte die Fahrt und Kurt setzte sich zwischendurch auf das Dach, denn auch Engel sind hin und wieder erschöpft.
Langsam dämmerte der Morgen und in der Ferne sah Kurt ein paar Hügel und noch weiter entfernt die Berge. Schon bald floss das Sonnenlicht über die Landschaft und plötzlich hörte Kurt Gesang. Geschwind flog er vom Dach hinunter und setzte sich neugierig auf die Fahrerhaube. Nun konnte er die Gesichter der Menschen in Ruhe betrachten. Er waren eine Frau und zwei Männer und sie sangen aus vollem Herzen. In ihren Augen war ein blitzendes Leuchten, wie Kurt es nur selten bei den Erwachsenen sah.
„Bald sind wir alle in Sicherheit“, hörte Kurt den Fahrer sagen. „Dann beginnt für die Schafe und ihre Lämmer ein neues Leben in Freiheit.“
Die Frau legte die Hand sanft auf seinen rechten Arm. „Das ist das schönste Ostergeschenk: Ostern ist das Fest des Frühlings und des Lebens – was gibt es Schöneres, als Leben, das leben will, zu retten?“ Und lachend fügte sie hinzu: „Wir sind Diebe aus Liebe.“
Da musste Kurt, der Engel, weinen. Aber diesmal waren es nicht Tränen des Kummers, sondern der Freude. Sie waren aus goldenem Licht, wie der Glanz der Sterne und der gerade aufgehenden Morgensonne.
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N.B. Dies ist keine wahre Geschichte; sie entspringt einem Wunschdenken angesichts des blutigen und traurigen Schicksals vieler Lämmer an Ostern.
© Copyright Daniela Böhm 2016
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Was für wunderbare Geschichten von Daniela Boehm, sie nähren die Hoffnung und den Mut, etwas zu tun für die, die keine Stimme und keine Rechte haben in unserer speziesistischen Gesellschaft; ich kann mich daran kaum „sattlesen“ – sie tun so gut – vielen herzlichen Dank dafür !
Ute Kreiser