Wir schreiben das Jahr 2013 und leben in einer hochzivilisierten und modernen Welt. Das könnte man zumindest meinen, wären da nicht immer noch die brachialen Traditionen eines Patriarchats, deren Fortbestand das Wort „zivilisiert“ bei genauerer Betrachtung ins Wanken bringt. Das Patriarchat fordert auch in der heutigen Zeit einen hohen Preis: Es verlangt nach Kampf, dem Recht, der Stärkere zu sein, dem Recht nach Waffen, Vorherrschaft und Glaubenssystemen.
Die katholische Kirche ist eines dieser patriarchalen Systeme mit einem herrschaftlichen Anspruch von Glaubenssätzen. Und dass Männer kämpfen müssen, ist ebenfalls eine Überzeugung des Patriarchats die noch weit verbreitet ist. Wie könnte „Mann“ es sonst erklären, dass 2011 von den hundert größten Rüstungsunternehmen weltweit Waffen im Wert von über 400 Milliarden Euro verkauft wurden? Allein die Schuld den Männern zu geben, wäre jedoch zu einfach. Erstens kämpften und kämpfen auch Frauen und zweitens unterstützen sie oft patriarchale Strukturen, weil sie diese im Laufe der Jahrhunderte verinnerlicht und ihre Ansprüche und Vormachtstellung akzeptiert haben.
Im spanischen Pamplona treffen zwei dieser Strukturen zusammen: Zu Ehren eines männlichen Heiligen (Firmin der Ältere) und um den virilen Mut zur Schau zu stellen, wird der Encierro, wie die Stierhatz in Spanien genannt wird, alljährlich mit großen Feierlichkeiten begangen. Diese Stierhatz ist nichts anderes als das Eintreiben der Stiere in die Arena und beruft seine Tradition neben der Ehrung eines Heiligen auf mittelalterliche Jahrmärkte und den Stierkampf. Bevor es geeignete Transportmittel gab, wurden jene Stiere, die für den Kampf in der Arena bestimmt waren, auf Weiden außerhalb der Stadt gehalten und am entscheidenden Tag von Hirten durch die Straßen zur Arena getrieben. Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich daraus vor allem unter den jüngeren Männern die Tradition, als Mutprobe eine Zeit lang neben den Tieren herzulaufen.

Interessanter Weise prallen hier zwei Gegensätze aufeinander: Mut und Angst. Eine Herrschaft der Angst und des Schreckens wurde insbesondere im Mittelalter durch die katholische Kirche aufrechterhalten: Die „Heilige“ Inquisition ist nach wie vor eines der schwärzesten Löcher im Universum der Kirche. Ihren Mut hingegen möchten junge Spanier und mittlerweile auch viele TouristInnen auch heutzutage noch auf die Probe stellen.

Überall in den Medien wird über die Verletzten oder gar Toten dieses grausamen Spektakels geschrieben. Am Samstag (13.07.2013) wurden über zwanzig Menschen schwer verletzt, als einer der Stiere beim Einzug in die Arena hinfiel. In den Mainstreammedien geht es vor allem um die Verletzungen der Menschen und nicht um die Angst und den anschließenden gewaltsamen Tod der Stiere in der Arena. Der Stierkampf, bei dem ein unschuldiges Lebewesen, das mit panischer Angst und Fluchtverhalten reagiert, vor den Augen einer schaulustigen Menge schließlich getötet wird, ist eine besonders grausame Tradition des Patriarchats gegenüber den Tieren.
Cantinillo ist einer dieser Stiere, der am ersten Tag der Feierlichkeiten beim anschließenden Kampf in der Arena in Todesangst zweimal über die Absperrungen sprang, um vor seinen Henkern zu flüchten. Es ist kaum auszudenken, bzw. mitzufühlen, was dieses arme Wesen an jenem Tag vor seinem Tod durchgemacht hat. Cantinillo ist durch die Hölle gegangen. Die Hölle ist kein Ort, der weit, weit weg ist, nicht für Cantinillo und auch nicht für Milliarden anderer Tiere. Die Hölle ist hier auf Erden und nichts anderes als die Schreckensherrschaft des Menschen unter der die Tiere leiden müssen. Auch die erfundene Hölle der katholischen Kirche, mit der sie ihre gläubigen Schäfchen in Todesangst versetzte und auf dieser Furcht ihre Vormachtstellung und Herrschaft begründete, ist menschgemacht, treffender wäre es in diesem Fall vielleicht zu sagen: Sie ist „manngemacht“.
Immer wieder sind es veraltete Strukturen, Glaubenssätze, Ansichten und Meinungen um derentwillen Tiere leiden müssen. Tiere sind auch heute Opfer uralter Dogmen. Frauen wurden als Hexen verbrannt, wenn sie nicht dem Glaubensdogma einer durch und durch männlichen katholischen Kirche entsprachen und Tiere werden noch heute für anthropozentrische Dogmen ausgebeutet, gequält, verfolgt und getötet.
Anstatt neben einem Stier herzurennen oder davonzurennen und damit seinen Mut beweisen zu wollen, würde es von viel größerem Mut zeugen, sich den eigenen Vorurteilen, althergebrachten Überzeugungen, Begrenzungen und auch Ängsten, im eigenen Denken zu stellen. Damit das große Leid der Tiere auf diesem Planeten ein Ende findet, braucht es den Mut, über den eigenen Tellerrand zu blicken und ein anthropozentrisches Weltbild in Frage zu stellen.
Dies erfordert wahren Mut. Von Männern und Frauen.

©Daniela Böhm
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