Hinweis: Dieses Interview sollte ursprünglich als TV-Aufzeichnung für Alpenparlament.TV (www.alpenparlament.tv) realisiert werden. Da das Gespräch aus organisatorischen Gründen nicht zustande kam, wurden die Fragen schriftlich beantwortet.
Herr Dr. Kaplan, wann haben Sie begonnen, sich mit dem Thema Tierrechte bzw. Tierethik zu befassen und warum?
Das war auf alle Fälle vor 1963, in diesem Jahr wurde ich nämlich aus ethischen Gründen Vegetarier. Mich verstörten die toten Tiere, die ich in den Geschäften und beim Transport dorthin öfter sah. Ich hatte das immer stärker werdende Gefühl: Hier läuft irgendetwas fürchterlich falsch.
Was bedeutet denn Ethik eigentlich und warum werden Tiere anscheinend aus der Ethik ausgeschlossen?
Während Moral die Richtlinien einer Person oder Gruppe bezeichnet, versteht man unter Ethik die kritische, rationale Auseinandersetzung mit Moral. Tiere kommen in ethischen Überlegungen durchaus seit langem vor, etwa bei Pythagoras, Bentham oder Schweitzer. Eine Tierethik im Sinne explizit rationaler Ansätze, in denen Tiere eine zentrale Rolle spielen, gibt es allerdings erst im 20. Jahrhundert: seit Peter Singers Buch „Animal Liberation“. Als Ursachen für diese lange „Anlaufzeit“ sehe ich zweierlei: Erstens die jahrtausendelange Vermischung von Philosophie, Religion und dem, was heute unter dem Terminus „Esoterik“ läuft. Zweitens, daß den Menschen erst jetzt langsam bewußt wird, was Darwin vor 150 Jahren erkannte: daß Menschen und Tiere das Produkt EINER Evolution sind und die ethische Relevanz der Tiere daher entspechend groß ist bzw. sein sollte.
In vielen Ländern, darunter Österreich, Deutschland und der Schweiz, gibt es Tierschutzgesetze. Was darin geschrieben steht, nämlich das Verbot, Tieren Leid oder Schmerz zuzufügen, geschweige denn sie zu töten, deckt sich mit ethischen Bestrebungen. Allerdings gibt es eine Ausnahmeregelung die eine Tiertötung aus vernünftigem Grund erlaubt. Welchen Sinn haben da Tierschutzgesetze?
Offensichtlich kaum einen: Es gibt, insbesondere bei Tierversuchen, nämlich de facto keine Grausamkeit, die Tieren NICHT zugefügt würde – trotz Tierschutzgesetzen!
Wo liegt der Unterschied zwischen Tierschutz und Tierrecht?
Tierschützer halten die Nutzung von Tieren für menschliche Zwecke für grundsätzlich legitim, plädieren jedoch für einen möglichst „humanen“ Umgang mit Tieren. Tierrechtler verurteilen hingegen die Nutzung von Tieren für menschliche Zwecke grundsätzlich. Um den Unterschied am Beispiel Fleischessen zu veranschaulichen: Tierschützer propagieren eine „humane“ Fleischproduktion, Tierrechtler lehnen Aufzucht und Tötung von Tieren für menschliche Ernährungszwecke grundsätzlich ab.
Seit wann gibt es einen solch „schäbigen“ Umgang mit Tieren? Wie ist es dazu gekommen, daß Tiere „nichts wert“ sind?
Diesen „schäbigen“ Umgang mit Tieren gibt es wohl seit jeher. Denn grausam waren die Menschen ja zu allen Zeiten auch UNTEREINANDER, man denke nur an Sklaverei, Gladiatorenkämpfe usw.! Und die „moralischen Leitplanken“, die gegen die diversen menschlichen Bösartigkeiten errichtet wurden, dienten fast ausschließlich der Eindämmung der Grausamkeit gegenüber den Mitmenschen.
Wie rechtfertigt man Grausamkeiten und Leid, die mit Tierversuchen in Zusammenhang stehen?
Gute Frage! Ein Beispiel: Beim UTILITARISMUS geht es darum, die Interessen aller Betroffenen zu maximieren: Richtig ist jene Handlung, die für alle am meisten Glück bzw. am wenigsten Leiden bringt. Es geht also ums Allgemeinwohl. Beim RECHTE-Ansatz geht es hingegen darum, die Ansprüche von Individuen genau vor solchen Interessenmaximierungen im Sinne des Allgemeinwohls zu schützen. Im Konfliktfall zwischen Allgemeinwohl und Individualrechten fungieren die Individualrechte quasi als Trumpfkarte. MENSCHENVERSUCHE sind nun verboten, weil Menschen solche Individualrechte hätten, die das Allgemeinwohl „ausstechen“. TIERVERSUCHE werden hingegen unter Hinweis auf das Allgemeinwohl gerechtfertigt! Also: Individualrechte für Menschen, Utilitarismus für Tiere. Für dieses willkürliche Messen mit zweierlei Maß gibt es keinerlei ethische Rechtfertigung.
Warum?
Unter anderem, weil kein moralisch relevantes Merkmal – etwa Bewußtsein, Selbstbewußtein, Rationalität, Autonomie – entlang des Speziesgrenze Menschen – Tiere verläuft. Mehr noch: Es gibt Menschen, z.B. viele Senile und Demente und alle kleinen Kinder, bei denen diese Merkmale WENIGER ausgeprägt sind als bei vielen Tieren.
Sollte man Tierversuche also sofort verbieten?
Ja, das sieht man auch schnell, wenn wir auch Tierversuche zunächst einmal so betrachten, wie wir auch alle anderen moralischen Fragen zunächst einmal betrachten: nicht aufgrund irgendwelcher komplexer Theorien, sondern aufgrund einfacher moralischer Prinzipien oder Intuitionen. Dann erkennen wir: Es kann nicht richtig sein, jemanden zu etwas zu zwingen, das er überhaupt nicht will, das ihm fürchterlich weh tut und das ihn objektiv schädigt – nur weil er sich nicht wehren kann! Oder: Stellen Sie sich vor, uns überlegene Außerdische kommen auf die Welt und machen mit uns, was wir mit Tieren machen. Würden wir das als moralisch gerechtfertigt betrachten?
Haben Tiere ein Seelenleben?
Selbstverständlich! Das Leben hat sich kontinuierlich entwickelt und die Merkmale der Lebewesen variieren kontinuierlich. Deshalb sind auch die üblichen Alles-oder-nichts-Zuschreibungen der Art, nur Menschen hätten diese oder jene Fähigkeiten, in aller Regel unsinnig. Das gilt auch für das Seelenleben. Darwin sagte: „Wie groß auch der Unterschied zwischen den Seelen der Menschen und der höheren Tiere sein mag, er ist doch nur ein gradueller und kein prinzipieller.“ Und Konrad Lorenz meinte zu Recht, daß Menschen, die NICHT davon überzeugt seien, daß höhere Tiere ähnlich wie wir erleben, in die psychiatrische Klinik gehörten, weil eine Schwäche der Du-Evidenz sie zu „gemeingefährlichen Monstern“ mache.
Kann man auf Grund der Behandlung von Tieren Rückschlüsse auf den Charakter eines Menschen schließen, bzw. wie er mit anderen Lebewesen, so auch mit seinen Mitmenschen, umgeht?
Es gibt eine Reihe von bekannten Aussagen, die einen solchen Zusammenhang behaupten. „Die Größe und den moralischen Fortschritt einer Nation kann man daran messen, wie sie die Tiere behandelt“, sagte Gandhi. Und Tolstoi: „Solange es Schlachthäuser gibt, so lange wird es Schlachtfelder geben.“ Viele empirische Daten, insbesondere der Kriminalpsychologie, belegen einen solchen Zusammenhang. Allerdings gibt es auch „gegenläufige“ Phänomene, etwa Tierexperimentatoren und andere Tierquäler, die nicht nur liebevolle Väter sind, sondern sich auch für fremde Menschen engagieren. Eine Erklärung hierfür könnte sein: Aufgrund der jahrtausendelangen abendländischen speziesistischen Tradition werden Tiere in hohem Maße als moralisch weniger wichtig betrachtet. Und diese Minderbewertung wirkt sich wohl auch auf unser Mitleid aus: Wenn Tiere moralisch weniger wichtig sind, dann ist auch ihr Leiden nicht so wichtig und unser Mitleid weniger berechtigt, weniger „notwendig“. Diese diffuse mitleidmindernde Wirkung diffuser weltanschaulicher bzw. religiöser Vorstellungen ist umso stärker, als die moralische Minderbewertung von Tieren ja traditionell „garniert“ wird mit faktischen Fehlinformationen über das Leiden und die Leidensfähigkeit von Tieren.
Es gibt die Bezeichnung: „humaner Umgang“ mit Tieren. Der Begriff bedeutet u.a. friedfertig, gut, sozial, etc. Auf der anderen Seite ist der Mensch das einzige Lebewesen, das so viel Leid hervorruft.
Daß „human“ sowohl „menschlich“ als auch „mitfühlend“ bedeutet, ist in der Tat unfreiwillig komisch – oder zynisch.
Warum ist es beim Tierschutz wichtig, Tiere in Bezug zum Menschen zu stellen? Ist der Mensch nur mitfühlend, wenn man die Parallelen eines Tieres zum Menschen herausarbeitet?
Der Nachweis der Ähnlichkeit mit uns ist in der Tat so ziemlich die einzige Methode, um Menschen dazu zu bringen, Tiere einigermaßen ordentlich zu behandeln. Nur einen Maßstab zu kennen und sich obendrein selbst zum Maßstab zu machen, ist natürlich ein intellektuelles Armutszeugnis. Zumal uns viele Tiere im Hinblick auf viele Merkmale ja weit übertreffen.
Was ist Ihrer Ansicht nach ein tiergerechtes Leben? Können die Menschen mit Ihrer Lebensweise, Städte etc., Tieren überhaupt ein tiergerechtes Leben bieten?
Da muß man differenzieren: Einer Katze kann man gewiß in einer Stadtwohnung ein tiergerechtes Leben bieten, einer großen Schlange eher nicht. Entscheidend ist , daß man sich über die Bedürfnisse der betreffenden Tiere informiert und dann IN IHREM SINNE entscheidet.
Welche Rechte sollte man Tieren geben, welche Gesetze erlassen?
Im Sammelband „Menschenrechte für die Großen Menschenaffen“ fordern Paola Cavalieri und Peter Singer das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit und den Schutz vor Folter. Das ist, denke ich, eine gute Orientierung. Grundsätzlich sollte bei der Konkretisierung im Hinblick auf bestimmte Spezies dann einfach gelten: Alle Tiere sollten so leben können, wie es den Interessen, die sie haben, entspricht. Dementsprechend sollten dann die Gesetze formuliert werden.
Eine weitere Schwierigkeit beim Thema Tierversuche ist, daß das Recht auf Forschungsfreiheit und das Tierschutzgesetz aufeinander treffen.
Die Sache ist glasklar: So wenig Menschenrechte und Forschungsfreiheit an Menschen zusammenpassen, so wenig passen Tierrechte und Forschungsfreiheit an Tieren zusammen. Diese Kombination ist eine kriminelle Idiotie. Tiere müssen als Forschungsobjekte genauso tabu sein wie Menschen.
Aber welche Alternativen gibt es zu Tierversuchen?
Bei dieser Frage geistert die These durch die Köpfe, es müßten auf alle Fälle alle für den Menschen möglichen Vorteile gefunden und genutzt werden. Daraus resultiert die völlig falsche Fragestellung: Wieviel Gesundheit können wir MAXIMAL erzeugen? Die richtige Frage lautet aber: Wieviel Gesundheit können wir AUF ETHISCH ZULÄSSIGE WEISE erzeugen?
Wie gehen die Medien mit dem Thema Tierversuche um?
Da ist eine interessante Entwicklung zu beobachten. Die Fleischindustrie wirbt immer offener, ja „mutiger“ für ihre Produkte: Dem Konsumenten ist völlig klar, daß er einst lebende Tiere ißt, denn gerade damit wird geworben: angeblich artgerechte Aufzucht, kurze Transportwege usw. Die Tierversuchsindustrie agiert hingegen immer verschlossener. Beide Strategien spiegeln sich in den Medien wider.
Wie steht die Öffentlichkeit dem gegenüber?
Sie agiert so, wie es die Medien vorgeben: Über Fleischessen wird geredet, über Tierversuche wird geschwiegen. Einen eindruckvollen Beleg für die Dominanz der Medien lieferte der Bestseller „Tiere essen“: Dieses Buch löste – via Werbung – eine absolut artifizielle Debatte über das Fleischessen aus, der keinerlei echter Diskussionsbedarf in der Bevölkerung entsprach. Dementsprechend essen die Leute genauso weiter wie bisher.
Ist es möglich, sich über Tierversuche zu informieren?
Ja, zum Beispiel bei www.datenbank-tierversuche.de. Da können Sie genau nachsehen, wo wer wann welche Tiere wie foltert.
Was kann jeder einzelne tun?
Zuerst sollte man sich über die grundlegenden Zusammenhänge klar werden. Zum Beispiel darüber, daß Fleischessen und Tierversuche Manifestationen EINES UNGEISTS sind, nämlich der Mißachtung von Tierrechten. Wer dies erkennt, wird diverse Verharmlosungs- und Verschleierungsversuche im Hinblick auf bestimmte Tierrechtsverletzungen eher erkennen. Etwa, daß das Essen von Fleisch in Ordnung sei, wenn es „bio“ ist oder daß Tierversuche zulässig seien, wenn sie „notwendig“ sind.
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Helmut Kaplan (30.12.2010; 15:35 Uhr)
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